Der Klushund
Er saß beim gewohnten Ristretto. Die erste Zigarette rauchend. Er blickte über den See hinaus. Im Westen, über dem Thurgau war der Himmel bereits frei von Wolken. Über – besser gesagt – hinter ihm, war von der erwachenden Sonne noch nichts zu spüren. Der Himmel war wolkenverhangen. Aber der Westen würde es, wie meistens, schon richten.
Zweiter Ristretto. Dritte Zigarette. Der Himmel hatte die Wolken fast zur Gänze beiseitegeschoben. «Das Wetter» aus dem Radio, «Das Wetter» auf seinem mobilen Telefon: Eine Meinung: Heißer Tag, kühle Nacht. Ende Oktober, das war selten. Er begann, sich einen Tagesplan zurechtzulegen.

Zwei Stunden später verließ er die Wohnung. Geblendet von der Morgensonne. Sonnenbrille und iPod, seine dauernden Begleiter schützten die Augen und regten sein Denken an. Zuccheros Diavolo in me im Ohr. Er hörte die Musik laut. Rhythm for soul.
Lindau Hauptbahnhof. Etwas schmuddelig. Die alemannische Sauberkeit als Mähr. Er verließ den Bahnhof und schlenderte zum Hafen. Maria Bill in seinem Ohr will «so gern landen», aber bei ihrem Geliebten, und nicht in ihrer Heimat, dem Ausserrhodischen. Er blickt kurz hinüber ins Appenzellische. Schon spannend, der Lebenslauf der Bill. Von Trogen ausgezogen wurde sie zur Wienerin, akzentfrei. An der Burg, am Volkstheater. In Berlin mit dem Goldenen Theatertaler der Stadt ausgezeichnet. Sängerin, Piaf-Interpretin und so weiter, und so weiter.
Am Hafen ans Geländer gestützt, den Schiffen des Bodensees folgend, drehte er sich langsam um und verschwand in den engen Gassen der Lindauer Insel.
Kunsthandwerk, exklusive Mode, Souvenirs. Ein Geschäft war mit «The german beach House Adenauer + Co.» angeschrieben. Da musste er herzlich lachen. Adenauer auf dem Surfbrett, versuchte er sich vorzustellen. «Was interessiert mich mein Brett von gestern!», legte er in Adenauers Mund – und schmunzelte weiter vor sich hin.
Maximilianstraße. Die Sonne hatte das Heizen übernommen. Er zog seine Jacke aus. Den Rest des Tages verbrächte er im Shirt. Die Brodlaube immer ein Muss. Eine Brezn kaufte er, und diesmal auch ein Allgäuer Birnbrot, es war jetzt die Zeit dazu. «Kostet aber 11 Euro 40», warnte ihn die Verkäuferin. Egal, wenn es gut schmeckt.
Neben der Brodlaube war Hugos Bar. Ebenfalls ein Fixpunkt bei seinen Besuchen. Das Wetter machte durstig. Ein Weißbier. In aller Ruhe setzte er das Bier auf seine Lippen. Nach draußen, in die Sonne blinzeln, Herbstruhe in der Maximilianstraße. Viele Minuten später machte er sich auf. Bald wäre Weihnachten. Er betrachtet die Auslage des Goldschmiedehaus‘ Lindau. Fossil, Thomas Sabo, Uhren, Eigenkreationen, schöne Stücke.
Durch die Gassen dem Hafen zu. Einen Bananensplit beim Italiener. Danach noch ein Bier. Das Treiben im Hafen beobachtend, fotografierend. Noch ein paar Notizen ins Tagebuch. Die Zeit ging unerbittlich ihren Weg. Es war dunkel geworden. Er suchte eine Zugverbindung zurück, aber die App funktionierte nicht. Zum Bahnhof. Noch ein Blick zurück. Es schien, als wenn der Kellner und er die einzigen Menschen auf der Insel wären.
Stefan Waggershausen und Alice sangen «Zu nah am Feuer». Er hörte auf den Text, zum Bahnhof schlendernd. Versunken in seine Gedanken beim Bahnhof, die Falle der Haupttür drückend. Die Tür bewegte sich nicht. Er rüttelte, drückte, stieß, presste, sanft und mit Gewalt. Die Tür war zu. Er lugte durch das schmale, verschmutzte Fenster, Bahnhofshalle, menschenleer. Die Kopfhörer nahm er aus dem Ohr und schaltete sein iPod ab.
Er dachte nach, schaute auf den Taxistand, den Busterminal. Leer, alles nur leer. Es blieb ihm nur noch der Fußweg. Bis nach Bregenz zwei Stunden, dachte er sich. Das hatte er bereits einmal bewältigt und kam ihm nicht so weit vor. Bei Tageslicht sähe er den Strand.
Los geht’s. Er ließ seinen Gedanken freien Raum, sein iPod zog er aus der Hosentasche. Er war wieder in der Maximilianstraße. Die Läden waren alle zu. Niemand war unterwegs; was ihn nicht wunderte abends um neun, Ende Oktober. Ende Oktober, der 31. Oktober, Halloween. Er lachte zu sich, da war niemals etwas. Man hörte höchstens in der Tagesschau davon, wie dieser irische, christliche Tag, besser gesagt diese irische, christliche Nacht, in den Vereinigten Staaten begangen wurde. Aber am Bodensee?
Er hatte sich gerade für eine Musik entschieden. Ismaël Lô, die afrikanischen Rhythmen hülfen beim Zügiggehen. Doch er kam nicht dazu. Bei der Brücke angekommen, hörte er lautes, ja wildes Geschrei. Wie Geister entstiegen hünenhafte Männer dem See, sammelten sich auf der Brücke. Er duckte sich. Langsam schlich er hinter einen Busch und verharrte dort regungslos. Die Hünen kamen näher, sie wollten auf die Insel. Sie diskutierten lautstark. In seinem Versteck lauschte er, es muss eine nordische Sprache sein, dachte er. Ihm fiel ein, dass in der Sage der Bodensee tief im Erdinnern mit einem schwedischen See verbunden war. Er schüttelte den Kopf, ließ die Schweden ziehen, eilte, ja rannte über die Brücke auf das Festland.
Jetzt wähnte er sich in Sicherheit und ging zügig weiter. Ismaël Lô und Angélique Kidjo waren jetzt bei ihm, zumindest akustisch. Der Zoll bei Hörbranz. Er fehlte. Die Station war einfach nicht mehr da. Etwas entfernt, schon auf der Hörbranzer Seite, sah er zwei große, rote Lichter. Sie bewegten sich langsam. Je näher er den Lichtern kam, desto ruhiger wurden sie. Ein Schatten bewegte sich, und vom Oktobermond beschienen zeigte sich ein Untier mit funkelnden, roten Augen.
Der einsame Wanderer, für den der Tag so freudvoll begonnen hatte, hörte jetzt plötzlich auf, realistisch zu sein. Sofort zurück in Richtung Zech. Das war der Klushund, da war er sich sicher. Gerade vor ein paar Tagen hatte er diese Sage gelesen.
Er ging von der Landstraße ab, um ein Versteck zu suchen. Das heißt, er wollte die Landstraße verlassen, aber er war plötzlich von den Hünen, die er auf der Brücke gesehen hatte umzingelt. Sie packten ihn und banden seine Hände auf den Rücken. Wie weiland im Dreißigjährigen Krieg, fiel dem Gefesselten ein, da wollten die Schweden Bregenz einnehmen. Das war sein letzter Gedanke, von da an war er für immer verschwunden.