Narrenkästchen
24. Oktober 2014, Lesung, 11. Literatursalon
Spät war er darauf gekommen. Aber irgendwie zufällig – oder auch nicht – beschloss er, etwas zu versuchen, was ihm vor einigen Jahren bei jemand anderem nur ein mitleidiges Lächeln entlockt hätte.
Das Leben bringt immer wieder Neues, Unbekanntes. Dies wohl wissend, war er in diesem Moment davon überzeugt, dass in ihm vielleicht noch etwas schlummere, von dem er noch gar nichts wisse. Bald würde er fünfzig sein, den dritten Frühling fühlte er bereits. Er lag im Krankenhaus. Seine Krankheit war kompliziert und schwer, aber nicht ganz hoffnungslos. Er lag da und ließ, für Wochen zum Nichtstun verurteilt, alle Gedanken zu, d. h. die Gedanken waren einfach da. Er sinnierte, reflektierte, dachte an Freunde (echte und falsche).
Irgendwann fiel ihm eine Bemerkung ein, die eine Freundin vor Jahren gemacht hatte. Man sprach im Freundeskreis über die Vereinigten Staaten und die Menschen in den Staaten. Für einmal war man sich in der Runde einig: Die Menschen dort sind krankhaft selbstverliebt, haben ein Weltbild ohne Nuancen und so weiter. Da meinte eben jene Freundin, dass es in Amerika dazugehöre, eine Psychotherapie zu machen, worüber wir in Europa eigentlich nur abschätzig lächelten, doch sei sie der Meinung, dass jeder einmal im Leben eine Psychotherapie gemacht haben sollte. Eine solche decke Verstecktes auf, öffne Türen, die man nicht gekannt habe und so manches mehr. Wenn man sich auf eine Selbstreflexion einlasse, lägen Irrwege und Wege offen vor einem.
Ihm wurde bald klar, dass er diese Erfahrung machen wollte, und so griff er nach seinem Tablet und suchte sich die Psychotherapie-Praxen in der Umgebung heraus. Er verließ sich bei der Suche auf sein Gefühl. Ein wohlklingender Name musste es sein – und eine Frau; das war Bedingung. Mit dieser Vorgabe hatte er sofort einen Namen gefunden. Er rief an, und bereits stand der erste Termin fest, kurz nachdem er das Spital vorläufig verlassen durfte. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er verließ seine Gedanken und fiel narkosemüde in einen tiefen und traumfreien Schlaf.
In den ersten Therapiestunden hatte er der Therapeutin viel zu erzählen, er berichtete von seiner Krankheit, den Depressionen, die sich vor allem im Krankenhaus, aber auch zuhause liegend, immer wieder einstellten. Er berichtete von seiner ganzen Familie, von der Urgroßmutter bis zu seinen Geschwistern, von seiner Kindheit, seiner Schulzeit und seiner Jugend, kurz: Von der ersten Erinnerung bis zur Krankheit. Die Therapeutin ging dann etwas tiefer, interessierte sich für seine sozialen Kontakte, seine Ausbildung und wie er auf seinen Beruf gekommen war. Schließlich waren es nur noch Begebenheiten, die gerade stattgefunden hatten, die für ihn wichtig waren oder ihn betroffen machten. Seiner Subjektivität setzte die Therapeutin ihre geschulte eigene Subjektivität entgegen.
Sie schätzte ihn so ein, dass er zu einer – auch radikalen – Opposition neigte, wenn er mit etwas nicht einverstanden war. Das habe sich schon beim Heranwachsen gezeigt. Dass er sich fast immer verweigere, wenn das Wort «du musst» falle. Auf andere wirke das arrogant, sofern sie es nicht mit Sturheit verwechselten.
Er dachte immer wieder an die Worte der Therapeutin, beleuchtete sein Leben erneut unter neuen Aspekten. Als Kind musste er, wie es damals üblich war, gehorchen. Vieles war verboten. Widerrede gab es keine. Verbotenes zu tun war die einzige Möglichkeit einer Opposition, solange es die Eltern nicht erfuhren. Irgendwann begann für ihn das Leben, er fühlte sich frei (wenn es Freiheit überhaupt gab). Jedenfalls begann er bereits zu Beginn seiner Berufslehre politisch zu denken. Die Lehrer an seiner Schule hatten das eigenständige Denken gefördert und gefordert, und so wagte er es bald einmal, sich öffentlich zu Wort zu melden. Er schrieb Leserbriefe und für eine Jugendzeitschrift, las Geschichtsbücher, Biographien und Zeitungen. Er war fasziniert von der politischen Opposition, bewunderte die Kämpfer von 1848, 1968 und 1980. Das Schicksal Michael Kohlhaas’, das selbstzerstörerische Leben Edith Piafs … je ne regrette rien.
Er hasste Gewalt in jeglicher Form, und dennoch waren ihm die Rote Armee Fraktion RAF und die Brigate Rosse irgendwie sympathisch. Ihre Beweggründe, ihre gefühlte Ohnmacht verstand er. Zumindest glaubte er, sie zu verstehen. Zu den Zürcher Unruhen 1980 schrieb er öffentlich. Dies hatte einen Anruf der Polizei zur Folge; theoretisch könnte man ihn wegen Aufrufs zur Gewalt anzeigen, etwas von «Landfrieden» faselte der Polizist ins Telefon. Es passierte nichts.
Dann war da noch die Prüderie nach dem Krieg, mit der er sich beschäftigte. Die dümmlichen deutschen Filme erschienen aus den Trümmern des Kriegs. Harmonie mit braven Hausfrauen. Nichts mehr von Josephine Baker und das Spargelwachstum bei den Comedian Harmonists. Nach Paris, New York und Berlin in den Zwanzigerjahren waren diese Filme für ihn unverständlich. Opposition: Nackt auf einem Felsen der Verzasca mit der Freundin liegen, Badehosenwechsel im Freibad ohne verdeckendes Badetuch, offener Vorhang im Kaufhaus bei der Anprobe von Jeans …
In seinem Land gab es keine Missstände. Zumindest nicht AUF dem Teppich. Alles war übersichtlich, und ein Politiker konnte sich nichts erlauben, denn es wäre allzuschnell an die Öffentlichkeit gelangt.
Doch damals lebte man irgendwie in einem Paradies. Mit einem Rausch autofahren – kein Problem, solange kein Personenschaden vorlag. Die erste Frage eines Polizisten beim Blick auf den Führerschein: «Gehörst Du dem …?» Auf den Ämtern keinerlei Probleme. Der Amtsleiter oder sein Stellvertreter war Bekannter, Freund oder naher Verwandter. Die Türen zu allen Büros waren unverschlossen. Beim Regierungschef klopfte man an, oder telefonierte mit ihm auf der direkten Leitung in sein Büro.
Andernorts aber gab es genügend Vorkomnisse, die die Fratze der Politik aufzeigten. Den Fall Barschel verfolgte er besonders. Das Aufkommen der Grünen gab ihm Hoffnung zu einer Zeit als im eigenen Land eben erst ein grünes Pflänzchen zu keimen begann.
So vergingen die Jahre zwischen Hoffung und Enttäuschung. Er fühlte sich – älter werdend – immer wieder als Oppositioneller. Etwas besonnener? Kaum. Zu gross waren die Enttäuschungen. Hoyerswerda lag nicht etwa nur in der Lausitz. Auch in seinem Land gab es ein Hoyerswerda. Sonntags waren primitive Flugblätter im Postkasten, ein ausländisches Gasthaus brannte. Jeder kannte die säuberlich Rasierten mit den teuren Stiefeln, sie versteckten sich kaum. Nur die Polizei schien sie nicht zu finden. Er ging in stille Opposition. Uniformphobie.
Mit dem Älterwerden fand auch bei ihm ein Umdenken statt, und die Krankheit trug nicht unwesentlich dazu bei. An der Opposition (von seiner Frau auch ‹Alterssturheit› genannt) änderte sich nichts. Wohl aber bei seinen ehemaligen Hoffnungsträgern. Die Grünen mutierten zu Gegnern eines Karnivoren, der er war, und inszenierten Kreuzzüge gegen die Raucher. Die Sozialisten stellten den Nadelstreif ins Schaufenster, um nach und nach die Christlichen Volksparteien rechts zu überholen. Das Volk wählte untätige Willfährige der Wirtschaft, der künftig alles untergeordnet wurde. Sein Europa, das Europa von Kreisky, Brandt und Palme, war nicht mehr. Populismus und Lügen, repräsentiert von einseitig gebildeten Narzissten fanden Anhänger. Die charismatischen, intelligenten Politiker waren im Ruhestand oder hatten aufgegeben, die Parlamente schwach, die Regierungen machtbesessen. Ein krankhafter Sparwahn griff weit um sich, die Staaten holten sich Geld, indem sie sparten, und kürzten, alles unter großem Gejammer. Dass der Kapitalismus gescheitert ist, gäben sie nie und nimmer zu. In seiner bis anhin übersichtlichen Heimat machten das Menschliche und der gesunde Menschenverstand ebenfalls langsam der Zwietracht Platz.
Kürzungen und Sparmaßnahmen betreffen die weniger Bemittelten, die Armen und die Kranken. An Einnahmen fehlt es, da man ein Unternehmen «wegen der Arbeitsplätze» nicht besteuert. Feindbilder werden geschaffen. Etwa die Ärzte, die zuviel verdienen und Ferrari fahren. Das hat man von einem Treuhänder im Ferrari noch nie sagen gehört.
Zur Zeit liegt er wieder im Krankenhaus. Ich sitze bei ihm und hörte ihm zu. Jetzt schweigt er, wohl über das nachsinnend, was gerade aus seinem Mund quoll. Alterssturheit? Wohl kaum, denke ich. Langsam spricht er weiter. Über seine Depressionen und die Gedanken, die er dabei habe und gegen die er sich nicht wehren könne.
Doch bald ist er wieder beim Politischen. Er hatte vor dem Fremden noch nie Angst. Überall wo er war, suchte er sich die Kneipe der Einheimischen, meist landete er in einer Kaschemme, voll von Huren und Trinkern. Selbst dort, wo ihm die Sprache fremd war, machte er keine Ausnahme. Und die islamischen Fundamentalisten? frage ich. Angst? Nein. Pfaff ist Pfaff, ober er nun Pfarrer, Pope, Mullah oder Rebbe genannt wird. Jeder Fundamentalist ist ein Arschloch – und mit Vernunft kommt man nicht an sie heran. Schau dir die Schwulenhatz an! Dieses Credo wird nicht nur bei uns und in Russland gebetet.
Und hier, keine Opposition? frage ich, wissend, dass sich einiges geändert hatte. Postfaktisch wird von der Politik gelogen, dass die Balken des Staatsschiffs ächzen und drohen zu bersten, meint er lapidar, Horaz zitierend.
Er erzählt mir von seinem ersten Zusammenbruch, als noch nicht sicher war, dass er überleben würde. Er habe in Gedanken mit dem Teufel gesprochen. Ein sehr gutes Gespräch sei entstanden. Da wäre er bereit zum Sterben gewesen. Aber er hatte einen guten Freund, und dieser sagte mit 89 Jahren, dass er eigentlich sterben könnte, aber da sei noch etwas, was er erleben möchte, und zwar, dass das Volk dem Fürsten Paroli biete. Sein Freund starb vor der Abstimmung und ersparte sich so viel inneren Groll. Dies bleibe in seinem Gedächtnis, und er habe keine Angst mehr vor dem Tod, sagt er schließlich zu mir, ganz im Gegenteil!