Opposition

Spät war er darauf gekommen. Aber irgendwie zufällig – oder auch nicht – beschloss er, etwas zu versuchen, was ihm vor einigen Jahren bei jemand anderem nur ein mitleidiges Lächeln entlockt hätte.

Das Leben bringt immer wieder Neues, Unbekanntes. Dies wohl wissend war er in diesem Moment davon überzeugt, dass in ihm vielleicht noch etwas schlummere von dem er noch gar nichts wisse. Bald würde er fünfzig sein, den dritten Frühling fühlte er bereits. Er lag im Krankenhaus nach einer Leistenoperation. Er lag da und liess, für zwei Tage zum Nichtstun verurteilt, alle Gedanken zu. Er dachte nach, Belangloses drückte sich in sein Hirn, aber auch intensive, selbstreflexive Gedanken. Eine Bemerkung fiel ihm ein, die kürzlich ein Freund machte. Man sprach über die Vereinigten Staaten und die Menschen in den Staaten. Für einmal war man sich in der Runde einig: Die Menschen dort sind krankhaft selbstverliebt, haben ein Weltbild ohne Nuancen und so weiter. Da meinte eben jener Freund, dass es in Amerika zwar dazugehöre, eine Psychotherapie zu machen, doch eine solche sollte jeder einmal im Leben gemacht haben. Sie decke Verstecktes auf, öffne Türen, die man gar nicht gekannt habe und vieles mehr, wenn man der Selbstreflexion fähig sei, und dann lägen die Irrwege und Wege offen vor einem selbst.

Dann beschloss er, der im Krankenhausbett seine Gedanken sortierte, ihnen einen Platz in der persönlichen Reihenfolge, eine Psychotherapie zu machen. Das war Punkt eins auf seiner Liste. Er griff sofort zum Tablet, um eine Praxis zu finden. Er verliess sich bei der Suche auf sein Gefühl. Ein wohlklingender Name musste es sein – und eine Frau; das wurde ihm bald einmal klar. Und als diese Bedingungen feststanden, hatte er auch sofort einen Namen gefunden. Er rief an, und bereits stand der erste Termin fest. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er verliess seine Gedanken und fiel narkosemüde in einen tiefen und traumfreien Schlaf.

In den ersten Therapiestunden hatte er der Therapeutin viel zu erzählen, er zeichnete seine ganze Familie auf und verteilte verschiedenste Eigenschaften an die Familienmitglieder, von der Urgrossmutter bis zu seinen Geschwistern. Die Therapeutin interessierte sich für seine sozialen Kontakte, seine Ausbildung und wie er auf den Beruf kam. Schliesslich waren es nur noch Begebenheiten, die gerade stattgefunden hatten, und die für ihn wichtig waren oder die ihn betroffen machten, von denen er erzählte. Seiner Subjektivität setzte die Therapeutin ihre geschulte eigene Subjektivität entgegen. Sie schätzte ihn so ein, dass er zu einer – auch radikalen – Opposition neigte, wenn er mit etwas nicht einverstanden war. Das habe sich schon beim Heranwachsen gezeigt. Dass er sich fast immer verweigere, wenn das Wort «du musst» falle. Auf andere wirke das arrogant, sofern sie es nicht mit Sturheit verwechselten.

Er dachte immer wieder an die Worte der Therapeutin, beleuchtete sein Leben erneut unter diesem Aspekt. Als Kind musste er, wie es damals üblich war, gehorchen, Vieles war verboten. Widerrede gab es keine. Verbotenes zu tun war die einzige Möglichkeit einer Opposition, solange es die Eltern nicht erfuhren. Irgendwann begann für ihn das Leben, er fühlte sich frei (wenn es Freiheit überhaupt gab). Jedenfalls begann er politisch zu denken. Die Lehrer an seiner Schule förderten und forderten das eigenständige Denken, und so wagte er es bald einmal, sich öffentlich zu Wort zu melden. Er schrieb, las Geschichtsbücher, Biographien und Zeitungen. Er war fasziniert von der politischen Opposition, bewunderte die Kämpfer von 1848 bis 1968 und 1980. Das Schicksal Michael Kohlhaas’, das selbstzerstörerische Leben Edith Piafs … je ne regrette rien. Er hasste Gewalt in jeglicher Form und dennoch waren ihm RAF und Brigate Rosse irgendwie sympathisch; ihre Beweggründe, ihre gefühlte Ohnmacht verstand er, zumindest glaubte er sie zu verstehen. Zu den Zürcher Unruhen 1980 schrieb er öffentlich. Dies hatte einen Anruf der Polizei zur Folge; theoretisch könnte man ihn wegen eines Aufrufs zur Gewalt anzeigen. Es passierte nichts. Dann war da noch die Prüderie nach dem Krieg. Nach Paris, New York und Berlin in den Zwanzigerjahren für ihn unverständlich. Opposition. Nackt auf einem Felsen der Verzasca mit der Freundin liegen, Badehosenwechsel im Freibad ohne verdeckendes Badetuch, offener Vorhang im Kaufhaus bei der Anprobe von Jeans …

In seinem Land gab es keine Missstände. Zumindest nicht auf dem Teppich. Alles war zu übersichtlich, und ein Politiker konnte sich nichts erlauben, denn es wäre allzuschnell an die Öffentlichkeit gelangt. Andernorts aber gab es genügend Vorkomnisse, die die Fratze der Politik aufzeigten. Den Fall Barschel verfolgte er besonders. Das Aufkommen der Grünen gab ihm Hoffnung zu einer Zeit als im eigenen Land eben erst ein grünes Pflänzchen zu keimen begann. So vergingen die Jahre zwischen Hoffung und Enttäuschung. Er fühlte sich wieder als Oppositioneller. Etwas besonnener? Kaum. Zu gross waren die Enttäuschungen. Hoyerswerda lag nicht etwa nur in der Lausitz. Auch in seinem Land gab es ein Hoyerswerda, und sonntags waren primitive Flugblätter im Postkasten. Jeder kannte die säuberlich Rasierten mit den teuren Stiefeln, sie versteckten sich kaum. Nur die Polizei schien sie nicht zu finden. Er ging wieder in Opposition, dieses Mal wuchs sie sich zu einer Uniformphobie aus.

Mit dem Älterwerden fand auch bei ihm ein Umdenken statt. Die Grünen mutierten zu Gegnern eines Karnivoren, der er war. Die Sozialisten stellten den Nadelstreif ins Schaufenster. Das Volk wählte untätige Willfährige der Wirtschaft. In seiner bis anhin übersichtlichen Heimat machten das Menschliche und der gesunde Menschenverstand langsam der Zwietracht Platz. Populismus und Lügen fanden Anhänger. Die charismatischen, intelligenten Politiker waren im Ruhestand, das Parlament schwach, die Regierung machtbesessen. Ein krankhafter Sparwahn griff weit um sich, die Staaten holten sich Geld, indem sie sparten, kürzten, alles unter grossem Gejammer. Die Kürzungen und Sparmassnahmen betrafen die weniger Bemittelten. Geholt wurde nichts. Und schliesslich breitete sich ein Fundamentalismus vollends aus. Der Fundamentalismus des Islam machte allen Angst. Diese Angst hatte er nicht. Er hatte andere Ängste. Einzelne Katholiken riefen zur Schwulenhatz (wohl ohne polizeilichen Anruf), und neben dem, den sie Gott nennen, sitzt der Puppenspieler mit tausenden Fäden und bewegt die Marionetten auf seiner Puppenbühne. Opposition? Er wusste es nicht, er war müde, so beschloss er vorerst, auf seine politischen Rechte zu verzichten. So, wie ich ihn kenne, wird er die Urne künftig meiden, bis eine andere Urne seine Überreste aufnimmt. Als Oppositioneller wird er sich in seinem Innern immer fühlen.